B L I C K P U N K T E

    Scharfblick oder Schafsblick?

L E E R E

umhüllt kurze Donner und Blitze

 

Paul Bumm ging es schlecht: irre Schmerzen am und/oder im Kopf, Hals-und Schultermuskulatur, außerdem                                                              Fieber.

 

Sein Ehegespons kümmerte sich rührend um ihn, doch er jammerte. Als er Flüche hervorstieß, die in einem lauten „Himmelherrgottsakramentkruzifixhallelulja“ gipfelten, griff sie zum Telefon und wählte die Nummer der Hausärztin. Doch diese war abwesend, wie schon des Öfteren verreist in Urlaub. Die besorgte Gefährtin des Kranken rief die Vertretung der Ärztin an. Das war Herr Dr. Komme-ich-nich, der – oh Wunder – zu sprechen war. Die Ehefrau schilderte ihm Pauls Krankheitssymptome.

„Dann kann er in meine Praxis kommen“, verlautete der Mediziner.

Das Ehegespons holte tief Luft und erklärte: „Nein, kann er eben nicht.“

„Warum denn das?!“, tönte es im Hörer des Telebimmels.

Das Eheweib war innerlich erbost, riss sich aber zusammen und antwortete mit höflicher Stimmlage: „Er kann nicht zu Ihnen fahren, weil er  krank ist.“

„Rufen Sie den Krankenwagen!“ blaffte Dr. Komme-ich-nich ins Telefon und legte auf. Die nun aufgewühlte Besorgte setzte diese Aufforderung in die Tat um.

 

Nach kurzer Zeit, weniger als zwanzig Minuten, hielt die Ambulanz vor der Haustür des Paares. Dem medizinisch komplett ausgestatteten Transportfahrzeug entstiegen ein Arzt begleitet von drei Sanitätern. Diese freundlichen Männer ließen sich die Krankheitsmerkmale und das Befinden des im Bett liegenden Patienten erläutern, untersuchten ihn dann: Blutdruck, Fieber, Sauerstoffgehalt im Blut, EKG.

 

Paul Bumm horchte auf ihre Gespräche. Er erwartete, dass sie sagen würden: „Der lebt ja noch.“ Sagten die Mediziner aber nicht. Zum Glück stellte Paul fest, dass sie nicht beabsichtigten, die Polizei oder ein Beerdigungsinstitut zu verständigen. Stattdessen vernahm er die Sätze: „Muss getestet werden.  Wir nehmen ihn mit.“ Sie stellten fest, er sei transportfähig und verfrachteten ihn in ihr Vehikel. Wegen des Corona-Stusses durfte Pauls erschrockene Ehefrau nicht mitfahren. Sie weinte.

 

Dort lag er dann mit dem Rücken auf einer schmalen Trage. Ein aufmerksamer Sanitäter saß neben ihm, fühlte seinen Puls, zählte die wahrnehmbaren Herzschläge und beurteilte den alten Neunundsiebzigjährigen als nicht akut in einer lebensbedrohenden Situation. Er versuchte, sich mit dem Patienten zu unterhalten, um diesen etwas aufzumuntern. Daraus wurde jedoch nichts. Paul Bumm reagierte bloß mit „ja, nein“ oder gar nicht. Das lag wohl an seinem schwachen Allgemeinzustand; außerdem war er schon lebenslang eine maulfaule Kreatur gewesen.

 

Der Krankenwagen fuhr los. Der um Freundlichkeit und Anteilnahme bemühte Sanitäter erklärte, dass man wegen Baustellen an der guten Bundesstraße einen Umweg auf holprigen Wegen fahren müsse. Der Alte antwortete nicht. Sein hilfsbereiter Begleiter dachte im Stillen: „Aha, ein alter Depp.“

Das Fahrzeug bewegte sich langsam vorwärts. Es ruckelte, hüpfte, wackelte. Paul krallte sich mit rechter und linker Hand an der Trage fest. Es gelang ihm, nicht runter zu kullern.

 

Wenn er den Kopf leicht seitwärts nach links drehte, sah er ein schmales Fenster, durch das er teilweise sehen konnte, was sich draußen befand oder abspielte. Er erblickte die mittleren und oberen Teile gemächlich vorbeiziehender Bäume. Das empfand er zunächst als beruhigend und angenehm, denn er agierte schon immer als Beobachter und Freund der Natur. Das sich krampfhaft an der Trage festhalten müssen empfand er kaum noch störend. Sogar seine Schmerzen ließen nach.

Doch was da während der holprigen Fahrt wahrnehmbar war, wirkte zwar nicht einschläfernd, war aber doch sehr eintönig. Paul blickte auf Bäume, die nur aus dichtem bewegungslosem Geäst zu bestehen schienen. Keine Farben waren zu erkennen. Warum nicht? Na ja, da waren eben keine. Die kräftigen und dünnen Äste erschienen in staubigem Grau. Da war kein Blatt, kein Grün, kein gelb oder braun, kein Rot. Und da war keine Bewegung. Winterstarre ohne Schnee. Die Ganglien des Gehirns des Alten produzierten gruselige Gedanken an den Tod. Schließlich gelang es ihm, sie unter großer Anstrengung seiner Ratio wegzuschieben.

 

Die Fahrt verlief beständig gleichbleibend: leichtes Rütteln des Vehikels, im Zeitlupentempo vorbeigleitendes farbloses bewegungsloses Baumgeäst. Das Bewältigen der kaum 15 km langen Strecke erschien dem Kranken schier endlos langsam und lange. Es beeinträchtigte ihn keine Unruhe, auch kein Unbehagen. Wenn der Transporter über auf dem Wege liegende Steine hinwegsetzte, klang es für ihn wie fast geräuschlose Donner, aber nicht nach Geschehnis oder gar Leben. Alles kam ihm vor wie ein Nichts, eine ihn und die Natur umhüllende Leere.

 

Mit einem sanften Ruck, stoppte der Ambulanzwagen. Er war am Haus der Kranken angekommen. Immerhin ein Ereignis! Paul wurde auf eine Liege in einen kleinen Untersuchungsraum transportiert. Dort lag er dann. Arzt und Sanitäter verschwanden mit einem kurzem „Tschüss“. Eine kranke Schwester – äh Krankenschwester – tauchte auf. Sie beäugte kurz den Patienten, sagte sanft „hallo“, fühlte seinen Puls, meinte dann „alles klar“ und verduftete. Die Tür des Zimmers blieb offen. Dennoch fühlte sich der alte Herr Bumm so als sei er in Einzelhaft in einer kleinen Gefängniszelle, in der er weder stehen noch rumlaufen – nur liegen – durfte.

 

Aber den Kopf durfte er bewegen. Seine Schmerzen waren auf fast null gesunken. Er drehte seine Birne von rechts nach links, von links nach rechts, hob sie manchmal sogar nach oben. Er sah sich um. Er beguckte Schubladen, ein Regal, einige Minischränke und die Zimmerdecke. Dann bemerkte er plötzlich, dass er auch – so wie vorher im Krankenwagen – von rechts schräg nach links oben schauen konnte und nutzte diese Möglichkeit, denn da oben befand sich ein Fenster mit durchsichtigen Scheiben. Welches Bild bot sich ihm? Was könnte man vermuten? Richtig geraten! Da waren: Bäume, scheinbar ohne Stämme, düster wirkende Äste, wirre staubgraue Verästelung, keine Knospen, keine Blätter, keine Farben, Starre, Winterstarre eben.

 

Obwohl Paul ein paar Dinge und auch schlafende Lebewesen, d. h. die kahlen Bäume, wahrnahm, umhüllte ihn inaktive Leere, die stundenlang anhielt. Die Leere war stets beständig, scheinbar nicht beeinflussbar. Doch in größeren Zeitabständen fanden geringfügige Donner statt. Sie drangen wie ein leises Gewisper in Pauls Hörorgane. Ihre Tonlage war Hochfrequenz. Des Kranken Gehirn arbeitete im Halbschlaf, um herauszufinden, was das denn sein könnte. War da ein kleines Vögelchen im Flur und piepste vor sich hin? Oder war es ein weinerliches Schluchzen einer Frau? Doch diese Fragestellungen gingen krass an der Wirklichkeit vorbei. Nach und nach gelangte der Alte stückweise zu dieser Erkenntnis: Das nach Piepsen oder Gewimmer klingende Minigeräusch hatte seinen Ursprung im Mund und den Stimmbändern der diensthabenden Assistenzärztin, die etwas einer Krankenschwester erklärte. Es stellte sich heraus, dass die Frau Doktor nicht etwa betrübt jammerte. Sie sprach eben immer auf diese Art und Weise. Damit verfügte sie über eine nicht alltägliche Eigenheit, man könnte es auch so ausdrücken: Sie hatte etwas Eigenes.

Dennoch fügte dieses „Ereignis“ der Leere keinerlei Schaden zu. Stark und permanent wie sie war, trotzte sie den Donnerchen und blieb unbesiegt erhalten.

 

Paul warf, er warf stierende Blicke gegen die Zimmerdecke, glotzte auch gelegentlich durch die Fensterscheibe auf das ihm bereits reichlich bekannte starre Baumgeäst, lauschte auf das ziemlich selten hörbare Gepiepse aus dem Flur. So vergingen sich dehnende Stunden.

 

Doch urplötzlich wurde die Leere abrupt verscheucht. Ein Blitz und vereinzelte Donnerchen traten auf. Die Deckenbeleuchtung blitzte auf und erhellte den Raum mit grellem Licht. Die Ärztin wickelte sich ganzkörperlich in gelbes Plastikgewand. Dann hantierte sie am Patienten: Blutdruck, Sauerstoffsättigung des Bluts, EKG, Abstriche in Mund und Nase, Blutabnahme. Paul fragte nach dem Ergebnis des EKGs. Als Antwort vernahm er ein mehr gemurmeltes als gesprochenes Hochfrequenz-Gepiepse, erzeugt von den scheinbar schwachen Stimmbändern der vermummten Medizinerin. Der Patient stellte lediglich fest, dass sie möglicherweise etwas gesagt hatte, die Bedeutung ihrer vögelchengleichen Laute blieben ihm jedoch ein Rätsel. Die Ärztin trat zwei bis drei Meter zurück, zupfte ihre gelb schimmernde Plastikverkleidung vom Körper und stopfte sie in einen Mülleimer.

Dann wurde deutlich, dass die leise Dame nicht nur Krankenheilerin war, sondern noch über eine weitere Qualifikation verfügte. Sie hatte auch Talent und Können einer Schauspielerin. Nun spielte Sie Rose. Sie verduftete. Lautlos.

 

Dann befand sich der Alte wieder in der Leere, die ihn erneut eine lange Weile umhüllte.

 

Eine dynamische gesunde Schwester der Kranken erschien im Untersuchungsraum. „Dynamisch“ bedeutet hier nicht „hektisch“ wie das normalerweise der Fall ist, sondern eher tatkräftig. Er wusste nicht warum, aber sie war freundlich und wirkte sympathisch auf Paul Bumm. Und was in Krankenhäusern manchmal wie ein Wunder erscheint: Sie sprach sogar. „Hallo, guten Tag, Herr Bumm“, sagte sie nicht piepsig, sondern mit deutlicher angenehm weiblicher Stimmlage. „Mann oh Mann“, dachte Paul, „die ist ja sehr gesprächig.“ Die Schwester gab auch eine Erklärung ab, was in Unterkünfte für Erkrankte eigentlich selten vorkommt: „Ich bringe Sie jetzt auf Station Drei.“ Sie packte mit entschlossenem Griff ein Ende der Trage und begann zu ziehen und schieben. Paul hatte einen Einwand. „Ich kann auch laufen“, meinte er. „Kommt nicht in Frage“, erwiderte sie. „Bleiben Sie liegen!“. Wörtlich genommen war dies ein Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Doch der Patient spürte dahinter ihre Sorgfalts- und Verantwortungspflicht, Einfühlungsempfinden. Seine graue Masse im Schädel entwickelte keinerlei Ärger. Er ließ sich willig kutschieren.

 

Der Transport verlief flott. Paul kam diese Reise so vor, als ob die engagierte Pflegerin nicht ging oder lief, sondern galoppierte. Er meinte sogar Fahrtwind im Gesicht zu spüren.

 

Im Zimmer der Station bestieg er ein Bett. Die emsige Schwester verließ eilig den Raum, hatte sicher noch Dringendes zu tun. Er war allein.

Der Alte setzte sich auf und sah sich um. Er befand sich in einer blitzblanken Riesenstube, die wie ein Saal wirkte. Dort war auch ein Fernseher, aber die Krankenschwester hatte kurz vor ihrem Abgang erklärt, dass dieses Gerät defekt sei. Paul Bumm kletterte runter vom Schlafmöbel. Er konnte dieses Risiko eingehen, denn es war ja kein Lebewesen da, welches hätte kommandieren können: „Liegenbleiben, zum Donnerwetter!“

Um Orientierung in dem voluminösen Gemach zu erlangen, wanderte er gemächlich herum, von links nach rechts, von rechts nach links und auch im Kreis. Nachdem er das dem Raum zugehörige Bad mit entdeckerfreudigen Blicken gewürdigt hatte, beschloss er, sein Herumwandern zu beenden. „Genug Sport“, murmelte er vor sich hin und schwang sich wieder auf die Schlafmulde. Als er so dalag und Löcher in die Luft gen Zimmerdecke stierte, wurden seine Augenlider schwer. Doch ein in die Stille platzendes, von Klappern, Klirren, Blitzen und Donnern begleitendes Ereignis verhinderte, dass er einpennte. Eine kraftstrotzende weibliche Figur stürmte herein und servierte Mittagessen. Im Nu war sie wieder weg. Paul pfiff. Allerdings pfiff er kein Lied, sondern pfiff die Mahlzeit ein.

 

Danach dachte er: „Sportliche Aktivität muss sein[DL1] “ und dackelte mindestens vier Meter und achtundneunzig Zentimeter weit zu den großen Fenstern des hotelartigen Raumes. Er brauchte nicht wie zuvor im Krankenwagen und Untersuchungsraum von unten schräg nach oben glotzen, sondern nun blickte er von oben nach unten und relativ weit nach draußen.

 

Dort sah er sogar eine mit Autos sowie Lastzügen befahrbare   Bundesstraße. Er sah eine Frau, die auf einem Fahrrad und einem Hund an der Leine dahinschlich. Was für ein enormes Verkehrsaufkommen!

Dicht neben der Straße reckten sich starr mächtige, breit verzweigte blattlose Bäume empor. Da war kein Leben. Paul empfand diesen Anblick als Bedrohung. Um Gedanken an das Nichts, die Leere, den Tod zu entfliehen, wandte er sich ab, ging eilig zurück zum Bett und schwang sich darauf. Zugedeckt und auf dem Rücken liegend starrte er in der totalen Stille gegen die Zimmerdecke. Seine Augen visierten einen bestimmten Punkt an, auf den er unverändert glotzte. Dem alten Herrn Paul Bumm wurde ein aufkeimendes Risiko bewusst.

„Wenn ich weiter so gucke“, murmelte er, „wird mein senkrecht nach oben gerichteter gradliniger Blick ein sich schließlich vergrößerndes Loch in die Zimmerdecke stampfen. Staub wird runter rieseln. Kleine und dicke Brocken aus Stein sowie Zement werden krachend von oben nach unten stürzen. Sie werden auf meinen Kopf prasseln und mein faltiges Gesicht zermatschen.“

 

Der Alte entschied, dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen, indem er seine Augen schloss. Dadurch war der stabile Zustand der Zimmerdecke gerettet. So blieb auch sein Haupt und Antlitz unversehrt.

 

Wenn so irgendwo ein Mensch rumliegt, atmet und manchmal auch schnarcht, ist er keineswegs tot, sondern schläft, wobei sein Gehirn emsig weiterarbeitet. Dies traf jetzt auch auf Paul zu. Er träumte.

 

„Er befand sich in einer weitflächigen Wüste, deren Sand in gedämpftem Licht grau erschien. Herr Bumm bemerkte einen kleinen leicht rötlich schimmernden Felsbrocken und setzte sich darauf.

Paul wollte die Gegend mit seinen Guckerchen erkunden. Während er sich umschaute und zunächst nur endlose trockene Sandwüste erkannte, veränderte sich die wahrgenommene Umgebung. In Minutenschnelle wuchsen riesige blattlose knorrig verästelte Bäume verschiedener Art aus dem grauen körnigen Boden. Auch ein mindestens sechs Meter hoher mit spitzen Stacheln bewehrter schwarzer Kaktus ragte aus der Erde. Er hatte mehrere Stämme, stand aufrecht und breitbeinig. Man hörte leise knarrende Töne, die von Bewegungen der tief verankerten Wurzeln der stummen Riesenpflanzen stammten.

 

Die urigen scheinbar leblosen, aber eben nur scheinbar, Gewächse standen dicht an dicht, waren eng miteinander verankert. Sie bildeten einen Kreis um Paul. Dem wurde mulmig. Er stand auf und versuchte wegzulaufen. Ging jedoch nicht. Nur nach wenigen Schritten stieß er gegen undurchdringliches Stamm- und Astgewirr. Der Kaktus fauchte Herrn Bumm an: „Setz‘ dich wieder hin, Alter! Wenn nicht, durchlöchere ich dich mit meinen Stacheln.“ Erschrocken stapfte der Mensch zurück zum Felsbrocken und pflanzte sein Gesäß auf dessen steinharte Oberfläche.

 

Die Bäume gaben ihre starre Haltung auf. Sie bewegten Stämme und Geäst sanft schaukelnd als ob eine leichte Brise wehen würde, obwohl kein Lüftchen fächelte. Dann begannen sie, sich im Rhythmus einer Liedmelodie behutsam schaukelnd hin und her zu bewegen. Sie summten leise. Nach kurzer Weile wurde das Summen hörbarer, schließlich deutlich vernehmbarer in anschwellender Tonhöhe, ging in einen mit Worten bestückten Gesang über.

 

Paul verstand lediglich Bruchstücke des Liedes. Er meinte zu hören: „i, i, i, ch, ch“, schließlich als Silbe „ich“. Die mächtigen Pflanzen erhöhten weiter die Lautstärke ihrer Stimmen. Ihr Gesang ertönte nicht mehr melodisch. Er verwandelte sich in ein brüllendes Gekreische. Aus ihren Kehlen zischte und dröhnte:

 

„Da hockst du nun, du alter Wicht.

In deinen Knochen tobt die Gicht.“

 

Paul sprang hoch. Angst verspürte er nicht. Er fühlte sich schwer beleidigt. Wut packte ihn. Die miesen Bäume übertönend brüllte er sie an, wobei er mit den Armen und zu Fäusten geballten Händen in der Luft herumfuchtelte. Er holte tief Luft, schrie dann mit all seiner Lungen- und Stimmbänderkraft: „Ihr blöden Eierköppe! Schnauze! Maul halten, ihr Gesäßfidel! Himmelherrgottsakramentkruzifixhallelulja! Ich habe keine Gicht, ihr Gesäßöffnungen.“ Dann brüllte er noch: „Wenn ihr nicht auf der Stelle mit eurem widerwärtigen Gegröle aufhört, hole ich meine Kettensäge und säge euch zu Kleinholz.“

Das war natürlich ein Blöff, denn wie hätte er wohl in dieser misslichen Lage an seine Motorsäge gelangen können, denn er war ja eingepfercht. Doch seine Drohung wirkte offensichtlich, allerdings nicht so wie von ihm gewünscht. Wenigstens endete abrupt das fiese Geschrei der Pflanzen.

 

Die Bäume waren jedoch überhaupt nicht furchtsam, sondern sich ihrer Stärke und Überlegenheit voll bewusst. Als ob sie ein Geheimbund wären, wisperten sie eine kurze Zeit miteinander, wahrscheinlich um eine Beschlussfassung zu erörtern.

Sie hatten eine Präsidentin. Das war eine 153jährige in der Blüte ihres Lebens stehende Eiche. Sie zog ihre ungeheure Hauptwurzel aus der Erde, streckte sie nach vorne, hob sie hoch und schlug damit kraftvoll auf den grauen Boden, so dass eine körnige Wolke hochflog.

 

Dann rief sie: „Ruhe im Karton!“ Sie redete klar und deutlich weiter in einem Tonfall, der eindeutig dröhnte: Kein Widerspruch möglich!

„Alle Anwesenden sind beeidigte Zeugen dieses Vorfalls. Du, der du bist ein saublöder aggressiver und krimineller alter Knacker, hast mein Volk und mich in bösartiger Weise auf das Gröbste beleidigt, beschimpft sowie mit deiner Absicht, uns zu ermorden, bedroht. Dafür werden wir dich bestrafen. Ich verkünde nun das von uns gemeinsam nach Beratung einstimmig beschlossene und ab sofort rechtsgültige Urteil.  

 

Es lautet: Todesstrafe.

 

Das Urteil wird sofort nach Beendigung meiner Ausführungen vollstreckt. Auf diese Art: Du wirst gefesselt, dann auf die Spitze des hier anwesenden starken Bruders, dem Kaktus, geworfen, denn dort sind seine Stacheln am wirksamsten. Dein Blut wird von ihm aufgesaugt werden. Dadurch erhält er ein zusätzliches schmackhaftes Happie-Happie. Mancherlei Getier zum Beispiel Viren, Bakterien, unzählige Insekten, Ratten, Mäuse und Raubvögel werden deinen Körper zersetzen sowie verspeisen.“

 

Wut und Entsetzen überflutete Paul. Ein durch Husten unterbrochenes Keuchen schoss aus seiner Luftröhre. Er war zu keiner Erwiderung fähig.

 

Die Präsidentin befahl: „Linde Nr. vier und Kiefer Nr. zwei, vollstreckt das Todesurteil!“

 

Die benannten Befehlsempfängerinnen streckten dünne Äste aus, mit denen sie den alten Menschen umwickelten. Er stand bewegungsunfähig wie eine zur Salzsäule erstarrte Figur. Mit festem Griff packten ihn die Vollstreckungsbeamtinnen mit knorrigen Ästen. Sie hoben ihn drei Meter und 33 Zentimeter hoch in die Luft. Um einen kräftigen Schwung zu erlangen, bewegten sie Herrn Bumm hin und her, je dreimal von links nach rechts und von rechts nach links. Schließlich schleuderten sie den Alten Richtung Kaktus. Er flog hoch. Auf dem Höhepunkt vollführte die Flugbahn eine Kurve, wodurch er steil nach unten zum Gipfel des Kaktus durch die Luft raste.

 

Als er auf das fressgierige Stachel-Monster prallte, blitzte es plötzlich. Es war kein Blitz, der kurz aufblitzt und dann wieder Dunkelheit hinterlässt, sondern sein äußerst grelles Licht erlosch nicht; es dauerte an, blendete sogar einige Momente, bis man sich daran gewöhnt hatte.

 

Als ob jemand einen anderen Sender eingestellt hätte, schaltete Pauls Gehirn um, schaltete die Wahrnehmung der dinglichen Wirklichkeit ein.

Der Patient realisierte, wo er sich mit Körper und Geist befand: in der Herberge der Kranken. Die tatkräftige Schwester war hereingestürzt und hatte die volle Beleuchtung des Raumes angeschaltet. Sie trat an das Bett des Alten und sagte: „Hallo Herr Bumm, die Tests waren ...“

„Was für Tests?“, unterbrach sie Paul.

„Corona!“, erklärte sie. „Sie sind negativ.“

Der Alte war verblüfft.

„Ich?“, fragte er, wobei er die Stirn runzelte. „Wieso bin ich  negativ? Ich bin doch ein freundlicher und vor allem harmloser Mensch. Was soll denn negativ an mir sein?“ In diesem Moment schossen der Helferin negative Gedanken durch den Kopf. Sie glaubte nun, dass der Alte an Bildungsferne litt, also ein Doofkopp auf dem Bett lag. Da sie aber grundsätzlich eine menschenfreundliche und empathische Dame war, setzte sie ihre Gedanken nicht in gesprochene Sprache um. Stattdessen erläuterte sie mit feinfühligem, wohlwollendem Klang ihrer mütterlichen Stimme: „Heute Morgen hatten Sie sehr starke Schmerzen. Vielleicht war dadurch Ihre Wahrnehmungsfähigkeit teilweise eingetrübt. Sie wiesen Symptome auf, welche den Verdacht entstehen ließen, dass sie Covid-19 infiziert seien. Deshalb wurden Sie zweimal getestet und in diesen Raum gebracht. Das hier ist das Isolationszimmer. Jetzt ist es neun Uhr abends. Die Test-Ergebnisse sind da. Sie sind frei von ....“

Paul unterbrach sie: „Ich bin frei. Ist ja toll! Ich wusste gar nicht, dass ich verhaftet worden war.“

Die Krankenschwester wäre beinahe hektisch-nervös geworden, beherrschte sich aber. Geduldig erklärte sie: „Herr Bumm, Sie sind frei von Corona-Viren. Sie haben keine Corona-Infektion. Deshalb bringe ich Sie jetzt auf eine Normalstation.“

Sie hätte gerne hinzugefügt: „Hast du das kapiert, du alter Esel?!“ Ihre Lippen hatten sich schon leicht geöffnet, um diesen Satz deutlich zu äußern, klappten jedoch wieder zu, ohne Worte herauszulassen.

„Toll toll“, sagte Paul. „Der vermaledeite Pandemie-Virus hat mich also nicht heimgesucht. Ich komme auch noch zurück unter die Normalen. Das ist fabelwunder, äh wunderbar und fabelhaft. Eine frohe Botschaft, fast wie das Weihnachtsevangelium.“

 

Pauls Gesichtsausdruck zeigte ein halb verstecktes Grinsen, welches möglicherweise auch eine Spur von Spott aufwies. Er freute sich, dass es ihm gelungen war, seinem Lieblingshobby zu frönen. Er war der festen Meinung: Menschen seines Alters und noch ältere werden von beinahe der Mehrheit der Bevölkerung als geistig minderbemittelt eingestuft. Aufgrund dieser tiefen Überzeugung hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, Leute, die ihn für dement oder einfach dämlich hielten, zu verar... äh zu vergesäßen. Eine solche Verhohnepiepelung der Krankenschwester, meinte er, war erfolgreich verlaufen.

 

Die fürsorgliche Helferin der Geschwächten schritt nun entschlossen zur Tat. Sie setzte ihre Hände, Beine und Füße in volle Bewegung, packte mit je einer Hand zwei Griffe des Betts. Sie schob das Schlafgestell aus dem Zimmer. Dann ging’s ab über diverse Flure. Eilig, wie sie war, rauschte sie den Kranken transportierend los.

„Mann oh Mann!“, ging es Paul durchs Gehirn, „sie läuft nicht, sondern galoppiert. Das Getrappel klingt nach Pferdegalopp.“ Er spürte Fahrtwind.

 

Es dauerte nicht lange, bis Schwester, Bett und Patient in einem kleinen Zweibettzimmer der Station angekommen waren. Dort lag auch ein kranker Genosse auf seiner Koje. Er schlief oder döste im Halbschlaf. Jedenfalls nuschelte er etwas, was Paul nicht so recht verstand. Er vermutete so etwas wie „Meister, Sägewerk“ zu hören. Wieso „Sägewerk“ war Herrn Bumm ein Rätsel. Vielleicht träumte der Mitpatient, er sei dabei, dicke Bäume zu Kleinholz zu zersägen.

 

Die flotte Schwester der Kranken löschte das Licht und verließ den niedlichen Raum. Paul schloss nicht die Tür ab, sondern seine Augen und pennte bis zum nächsten Morgen.

 

Der folgende Tag enthielt geringfügige Ereignisse, also Miniblitze gemischt mit schwachen Donnern: Frühstück, Mittagessen, eine graue – als Kaffee bezeichnete - Flüssigkeit in einer Tasse, Abendessen, zwischendurch netten Plausch mit dem Knastbruder.

Der inzwischen „Kumpel“ genannte Mitbewohner war ungefähr drei Stunden weg, weil er sich einer Behandlung außer Haus unterziehen musste. Danach kam er zurück. Während seiner Abwesenheit schaltete Paul die in diesem Zimmer tatsächlich funktionierende Flimmerkiste an und zog sich ein Quizsendung mit Jörg Pilawa ins Gehirn. Von dreiundachtzig Fragen beantwortete der Alte eine richtig. Darauf war er sehr stolz. Er war allein, konnte so seine Freude niemandem mitteilen. Aber er wusste sich zu helfen. Er klopfte sich selbst auf die Schulter und sagte laut: „Hast du gut gemacht, Paul“. Er sagte nicht: „Das haben Sie gut gemacht, Herr Bumm!“, denn er duzte sich.

 

Als der Zimmergenosse gegen acht Uhr abends wieder eingetrudelt war, sah man ihm deutlich an, dass ihn Erschöpfung gepackt hatte. Er legte Schlafklamotten an und verkroch sich ins Bett. Paul tat es ihm gleich. Er hatte auch genug in die Flimmerkiste geglotzt. Schließlich wollte er vermeiden, möglicherweise eine viereckige Birne zu kriegen.

 

Die beiden Schicksalsgenossen schliefen sanft ein. Doch nach genau elf Komma elf Minuten wurde Pauls Schlummer plötzlich ermordet. Ohne Blitz donnerte es gewaltig. Der Kumpel hustete enorm tösend mehr als viereinhalb Minuten lang. Die einzelnen Hustenausbrüche hatten die Lautstärke von Gewehrschüssen in der Finsternis. Nach dem Abschluss des Geknalles kam Sturm auf, der sich zu einem stoßweisen Orkan entwickelte. Der Mithäftling sog ruckartig Luft durch die Luftröhre in seine Lunge, stieß das Luft genannte Gasgemisch mit aller Kraft seines Atmungsorgans wieder aus. Dieser Vorgang währte exakt zwanzig Minuten bis er endlich abebbte. Der arme bedauernswerte Mann keuchte heftiger als ein Pferd nach einem 10 km Galopp. Es dauerte mindestens eine Viertelstunde. Dann flachte das wahnsinnige Gebläse ab, um in normales Atmen überzugehen. Die zwei alten Knacker glitten ins Land der Träume zurück. Aber wie lange wohl? Nicht lange. Donner und Orkan flammten in regelmäßigen Abständen stets wieder auf. Die ganze zehnstündige Nacht. Die dazwischen eintretenden der mit pennen angereicherten Intervalle waren kurz.

 

Gegen 05.30 Uhr war Paul so erschöpft, dass er in einen Tiefschlaf verfiel, der fast einer Bewusstlosigkeit ähnelte. Sein Gehirn hatte es abgelehnt, irgendwelche laute oder leise Geräusche wahrzunehmen. Er hörte nichts mehr und lag in Orpheus Armen.

 

Bis Punk sechs Uhr morgens. Ab diesem Zeitpunkt war jegliche Möglichkeit, gemütlich zu schlafen, radikal ausgeschlossen. Dauerlicht blitzte grell und anhaltend. Donnergerumpel hielt seinen Einzug.

 

Eine mit einem Kittel ausgestattete Dame hatte die Zimmertür aufgestoßen und alle Lampen eingeschaltet. Sie brüllte: „Guten Morgen!“

Paul erwiderte, allerdings nur in Gedanken: „Blödsinn, Scheißmorgen!“

Der bekittelte weibliche Mensch war bis auf die Zähne umfassend bewaffnet: Besen, Schrubber, Staubtuch, Wischtücher, Bürsten, Desinfektionsmittel. Die Dame war flott. Sie rauschte ins Zimmer, ins Bad; mit hoher Geschwindigkeit arbeitete sie emsig und sorgfältig. Sie fegte, wischte, staubte ab, desinfizierte alle sichtbaren und greifbaren Gegenstände. Bakterien und Viren hatten keine Überlebenschance. Mit Hilfe ihrer Waffen meuchelte die fleißige Frau alle. Wirklich alle? Nein doch nicht, denn ein männliches Corona-Virus entkam. Es flüchtete durch das Schlüsselloch der Tür des Raum, flog rasend schnell Flure entlang, über Treppen drei Stockwerke tiefer, gelangte an den Haupteingang des Krankenhauses, flutschte durch einen winzigen Spalt im Mauerwerk ins Freie. Dort fand es einen Gully. Es flutschte hinein und drang in die Kanalisation vor, die mit Ratten bevölkert war. Das kluge Virus heftete sich an eines dieser wohlbeleibten Nagetiere an. In diesem Allesfresser erkannte er ein feminines Corona-Virus. Die Beiden vermählten sich und zeugten mehr als sechsmilliarden Nachkommen, die sich dann auf die gesamte Rattenbevölkerung ausbreiteten. So wurden im Umkreis von 22,22 Quadratkilometern alle Nagetiere mit Covid-19 infiziert. Sie starben innerhalb eines Monats. So kam es, dass mehrere Landkreise frei von Corona wurden.

 

Die tatkräftige Schwester betrat das Krankenzimmer. Pauls Leidensgenosse hatte sich schon im Bett aufgesetzt. „Schlafen Sie noch eine Weile!“, sprach sie ihn an. „Herr Bumm muss heute zuerst ins Bad. Der Patient packte sich wieder hin.

Dann wendete sie sich dicht vor ihm stehend an Paul, der noch langgestreckt, bis zum Kinn zugedeckt war und sich in halbwachem Zustand befand.

„Aufstehen, Herr Bumm!“, forderte sie ihn deutlich und unmissverständlich auf.

„Was?, wie?, wo? denn so?“, wendete der Alte ein und fügte hinzu, „Es ist doch noch mitten in der Nacht!“

„Von wegen mitten in der Nacht“, widersprach Schwester Tatkraft, „Papperlapapp! Raus aus der Mulde, rein ins Bad, dann anziehen! Das muss schnell gehen. Sie werden heute entlassen. Ein Taxi wird sie nach Hause bringen. Es kommt bald.“

Widerspruch gegen die energisch vorgebrachten Aufforderungen der resoluten Dame einzulegen, wäre total sinnlos gewesen. Sie war eben an der Macht, so wie die Mehrheit der Frauen, denn wir leben in einem Matriarchat. Paul erklärte sich mit allem einverstanden, war auch froh, die Haftanstalt der Kranken verlassen zu können und dürfen. Mit freudig klingender Stimme rief er aus: „Boah, das ist ja voll fett!“

 

Flugs bewegte er sich runter vom Pennmöbel. Dann rein ins Bad, Körperhygiene durchführen, raus aus dem Waschkabuff. Er begab sich zu dem Schrank, in welchem sich seine Kleidungsstücke befanden oder befinden sollten. Er ergriff die große für seine Utensilien bestimmte Tasche, öffnete diese, sah hinein. Was sah er da? Nichts. Das als Bekleidungstransportmittel vorgesehene Ding war leer. Der Alte war ärgerlich und erschrocken. Es kam ihm nichts als sein üblicher Fluch in den Sinn, den er deftig ausstieß:   „Himmelherrgottsakramentkruzifixhalleluja!“

„Was ist denn los?“ fragte sein Zimmerkumpel.

Meine ganzen Klamotten“, erklärte Paul, „sind weg, spurlos verschwunden. Es kann doch nicht sein, dass sie weggeflogen oder gar geklaut worden sind.“

„Nee“ klärte ihn der Genosse auf, guck doch mal auf den Stuhl, der neben dem kleinen Tisch steht!“

Paul schritt zu diesem Sitzmöbel und machte Guck. Dort erkannte er, dass darauf seine Klamotten waren, sogar vollständig, Schuhe unterm Stuhl. Die Anziehsachen lagen nicht einfach so da, nicht durcheinander gewirbelt wie ein wirrer Haufen. Sie waren vielmehr sorgfältig zu einem kleinen Turm gestapelt: Die Unterhose oben, darunter Unterhemd, Hemd usw. genau in der Reihenfolge wie man sich anzieht. Herr Bumm war gerührt über diese Fürsorglichkeit der Schwester, die offensichtlich diesen Turm mit Sorgfalt und Einfühlungsvermögen gebaut hatte. Gleichzeitig erinnerte er sich aber auch an seine schon vor zirka zwanzig Jahren erworbene Erkenntnis: Hat man das sechzigste – manchmal schon das fünfzigste – Lebensjahr erreicht und ist noch nicht über den Jordan gegangen, halten eine Menge Mitmenschen einen für einen vertrottelten und schwachsinnig geworden alten Dösel, der wie ein Kleinkind zu behandeln ist.

 

Der Alte zog sich an, setzte sich an den Tisch. Das Bett würdigte er keines Blicks. Er war bereit abzudampfen. Doch vorher wurde Frühstück serviert: zwei Brötchen, acht Scheiben Wurst, sechs Scheiben Käse, zweimal in Plastik verpackte je eins Komma fünf Kubikzentimeter große Stückchen Margarine, ein Plastikteil, das 2,3 Kubikmillimeter Marmelade enthielt. Die dazugehörige Flüssigkeit – als „Kaffee“ betitelt - sah aus wie leicht dunkel gefärbtes Wasser und mundete so wie man sich den Geschmack von abgestandenem verschmutztem Spülwasser vorstellt.

 

Nachdem Paul ungefähr die Hälfte der üppigen Mahlzeit durch den Schlund in den Magen gestopft hatte, stand er auf. Er beabsichtigte, einen ausgedehnten Verdauungsspaziergang in dem nicht gerade voluminösen Raum zu unternehmen. Er hatte überlegt: „Tausendmal drei Schritte hin und her gehen, ist auch eine lange Strecke.“

Es kam jedoch nicht dazu. Sein Vorhaben wurde gestoppt, bevor er es hätte verwirklichen können. Die gleichzeitig sanfte und forsche Schwester der Hilfsbedürftigen trat ins Kabuff. Sie war in Begleitung eines jüngeren Mannes, der einen Rollstuhl mitgebracht hatte. Es stellte sich heraus, dass er der Taxifahrer war, welcher Paul nach Hause bringen würde.

„Jetzt geht es los“ sagte die Dame, setzen Sie sich, Herr Baum!“

Ein Mann hat die Pflicht, jedweder Aufforderung einer Frau Folge zu leisten. Daher pflanzte er sein Hinterteil erneut auf den Stuhl am Tisch. Dennoch wagte er einzuwenden: „Warum soll ich denn wieder Sitz machen, obwohl es sofort losgeht?“

Der Schwester wäre innerlich fast der Geduldsfaden gerissen; aber äußerlich blieb sie gelassen.

„Sie sollen“, erklärte sie, „sich in den Rollstuhl setzen verd... (beinahe hätte sie „verdammt nochmal!“ ausgerufen, riss sich jedoch zusammen). „Nehmen Sie bitte im Rollstuhl Platz!“

Da ging Paul ein nicht sehr großes, aber doch wohl mittelschweres Wagnis ein, indem er – wenn auch kleinlaut – einen minimalen Widerspruch vorbrachte.

Er wandte ein: „Ich werde gerade als gesund entlassen. Warum soll ich denn dann nicht meine Füße und Beine benutzen und von hier bis zum Auto laufen?“

„Ach Herr Bumm“, nehmen Sie doch die Gelegenheit wahr und lassen sich ein letztes Mal bequem kutschieren!“

Diese Argumentation – zumal sie aus einem weiblichen Denkvermögen stammte – überzeugte den nun Expatienten. Er schwang sich in das motorlose Rollgefährt und verabschiedete sich von Schwester und dem noch nicht genesenen nun ehemaligen Mitbewohner, der leider noch im Haus der Kranken ausharren musste.

Der Schofför schob Paul behutsam über Flure, dann ging’s per Fahrstuhl drei Stockwerke hinab. Als sie kurz vor der Ausgangstür des Gebäudes angekommen waren, hielt der Fahrer einen kleinen Plausch mit der sich dort befindenden Empfangsdame. Nachdem diese beobachtet hatte, wie der Alte per Rollstuhl herangekarrt worden war, dachte sie: „Schon wieder ein alter bedauernswerter Mensch mit schwerwiegenden Lähmungen.“ Doch dann geschah etwas, das sie fast mit Schrecken wahrnahm, vor allem sehr verblüffte: Als ob er ein junger Spund wäre, hüpfte der „Gelähmte“ aus dem Rollstuhl. Er lief mit flottem Gang raus aus dem Haus zum vor der Eingangstür stehenden Taxi.

„Na sowas!“, murmelte die Rezeptionsangestellte, „Sachen gibt’s, die es eigentlich gar nicht gibt. Aber Gips gibt’s.“

 

Während der Fahrt zu seinem Domizil vergegenwärtigten sich Pauls Erkenntnisse und das Empfinden von grauer einschläfernder Öde, von umhüllender bedrohlicher LEERE.

 

Öde sowie Leere waren nun verdrängt. Der Expatient nahm nun bewusst das ihn umgebende Gegenständliche und Lebendige wahr.

 

Um während des Transports per Ambulanzwagen zum Krankenhaus einen kleinen Ausschnitt der landschaftlichen Umgebung zu erhaschen, hatte er auf einer Trage liegend von rechts unten schräg nach oben guckend lediglich einen Teilausschnitt erkennen können – und dieser bestand auch noch bloß aus ihm abweisend erscheinenden starren Bäumen mit kahlem Geäst.

Jetzt auf dem Nachhauseweg hatte er die freie Möglichkeit, aus dem Auto rechts, links sowie geradeaus interessierte Blicke zu werfen. Er sah zwar wiederum blattlose bewegungslose Bäume mit Astgewirr. Aber sie erschienen ihm nicht mehr als abgestorben, sondern als im Schlaf ruhende eindrucksvolle pflanzliche Lebewesen, die mit Gewissheit in einigen Monaten erneut zum Leben mit grünen Blättern, bunten Blüten und Wachstum erwachen würden.

 

Der Taxifahrer sah sich genötigt, fast zwei Kilometer – genauer ausgedrückt 1,989 km - sehr langsam sein Vehikel vorwärts zu bewegen. Die Geschwindig- oder Langsamkeit betrug exakt 33,33 kmh. Ein urzeitlicher halb rostzerfressener Traktor schlich vor ihm gemütlich dahin. Aufgrund massenhaften Gegenverkehrs war ein Überholmanöver zu riskant. Der PKW mit dem Schofför und dem vormals Kranken sah sich gezwungen, den Schneckentempogang einzulegen. Dahinter bildete sich eine lange Kraftfahrzeugschlange.

 

Direkt hinter dem Taxi schlich ein Auto, in dem ein offensichtlich uneinsichtiger Macker steuerte. Er ließ mehrmals sein Geburtstagsgeschenk – eine auf hohe Lautstärke getrimmte Hupe – nicht etwa sanft erklingen, sondern donnernd erdröhnen.

A...l...ch!“, rief der Taxifahrer verärgert aus.

Paul stimmte ihm zu. Allerdings nicht mit gleicher Wortwahl. Er hatte sich vorgenommen, künftig – zumindest meistens oder gelegentlich – aristokratisch-vornehme Ausdrücke zu verwenden. Zugegebenermaßen hatte er „A...l...ch!“, gedacht, sagte aber mit einer Betonung, die rein wissenschaftlich oder schissenwaftlich klingen sollte: „Gesäßöffnung!“

 

Als das Taxi schließlich vor Pauls Hütte hielt, sprang er heraus. Sein Ehegespons stürzte freudig grinsend aus der Haustür. Sie versuchte, ihre Erregung zu verbergen, aber der Exkrankenhausbewohner fühlte doch, dass sie aufgewühlt war.

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

Er probierte ein Lächeln, indem er seine Lippen ein wenig öffnete, wodurch sein Gebiss leicht blinkend wahrnehmbar war und sagte: „Ich sun wieder gebind.“ (Anmerkung der Redaktion: Ich bin wieder gesund.) Die Lebenspartnerin kannte Pauls verschrobenen Spruch. Paul hatte die Gewohnheit, alle zwei Jahre zwei Tage krank zu sein. Daher hatte sie diesen witzig gemeinten Satz während der 46jährigen Ehe bereits dreiundzwanzigmal gehört und hatte mindestens   viermal darüber gelacht. Nun war aber der Spruch ihres Mannes nichts als Alltagsgespräch.

„Aha“, konterte sie, „dann geh jetzt in den Schuppen und hack‘ sechs Kubikmeter Holz. Danach gräbst du 222 Quadratmeter Garten um.“

Paul begab sich in die Küche. Dort wurde ihm ein Kaffee serviert, der tatsächlich den Namen „Kaffee“ verdient hatte.

An der linken Wand des Koch- und Essraums befand sich ein hohes und breites Fenster. Durch die blanken Scheiben konnte man werfen, ohne sie zu zerstören. Der Alte warf; er warf zahlreiche Blicke durch das dursichtige Material.

 

Dort sah er im Wintertraumland versunkene Bäume, auch einen Fliederbusch, der noch nicht völlig im Tiefschlaf war, denn er trug noch einige grüne Blätter. Der Sun-Wieder-Gebind-Mann nahm unter Einsatz seiner Sehorgane sowie seines Gehirns interessiert und konzentriert Geschehnisse wahr: Hühner scharrten auf der Erde. Ein Hahn krähte unverschämt laut und mit herrischen Gebärden. Ein anderer Hahn rannte hinter einer Ente her, holte sie ein und vergewohltätigte sie. Ein Puter-Pute-Pärchen klappte weit ihre Schnäbel auf und drückte geräuschvoll mit sich vor- und zurückstreckenden Köpfen und Hälsen ihr Missfallen aus. „Das ist ja Sodomie, ihr Gesäßfidel!“ krakelten sie.

 

Das war Leben. Die Leere war verdrängt als wäre sie nie vorhanden gewesen.

 

Es bleibt noch diese literarisch-poetische Weisheit aus dem Volksmund zu vermelden:

 

„Friede, Freude, Eierkuchen!“

 

Und die Moral von der Geschicht‘:

 

„Wenn du mal krank bist,

vergiss Gesundheit nicht!“

 

   

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