Kampf ums Leben
Der große Bruder blickt gespannt. Er äugt scharf. Sein Hirn erfasst durchdringend mit konzentrierter Aufmerksamkeit das sichtbare und mit dünnen Stimmchen begleitete Geschehen.
Emotionen wallen in ihm. Aber welche? Neugier begleitet von Sympathie und Mitgefühl? Wunschdenken, die Beobachteten mögen Erfolg und Glück haben? Oder empfindet er bohrende gierige Fresslust?
Die Umgebung des kleinen Wesens erscheint angenehm warm. Doch sie erzeugt keinerlei Wohlgefühl. Es ist ein Gefängnis, ein Knast ohne Fenster. Kein Strahl Licht dringt herein. Finsternis herrscht absolut. Die Luftfeuchtigkeit ist enorm, erschwert das Atmen, befeuchtet nicht nur, sondern nässt das Wesen.
Es befindet sich in einer äußerst engen Zelle. Seine Beine sind eingeknickt, sie zu strecken oder auch nur ein wenig zu bewegen, ist unmöglich. Auch die Arme sind keiner Bewegung fähig. Das Wesen atmet flach. Es droht zu ersticken.
Doch dann gelingt es ihm, den dünnen Hals und winzigen Kopf millimeterweise vor und zurück zu schwingen. Der das winzige Gehirn beherbergende Körperteil hat vorne einen harten Zacken. Dieser stößt gegen eine leicht gewölbte sehr harte Wand. Das Wesen schwingt Kopf und Hals, klopft gegen das Hindernis. Es lechzt nach Freiheit, kämpft mit Atemnot.
Dann aktiviert das Denkvermögen ein ererbtes Können des Geschöpfes. Es hämmert – vergleichbar mit einem Specht – mit hastiger Folge auf die widerspenstige, das Gefängnis zur scheinbar uneinnehmbaren Festung werden lassende Mauer. Die Kreatur hämmert minutenlang. Dann erschlafft sie. Sie rastet, keucht, verlangsamt dann Lungen- und Herzaktivitäten.
Das Wesen ruht bewegungslos länger als eine Stunde.
Doch schließlich tritt erneut der im Hirn gespeicherte Automatismus in Kraft. Das Geschöpf rafft sich auf. Es hämmert wieder, hämmert längere Zeit als zuvor, legt Ruhepausen ein, strafft die Halsmuskulatur, hämmert erneut.
Enorm starker Lebenswille treibt die Kreatur an. Sie will nicht ersticken. Sie will unbedingt mehr Luft, Licht wahrnehmen, alle Glieder bewegen und strecken können, will leben. Sie hämmert mehr als zehn Stunden in Intervallen mit verkürzten Ruhephasen.
Plötzlich dringt ein schwacher Lichtstrahl in die Gefängniszelle. Ein geringer Luftaustausch ist spürbar. Dem Wesen ist ein Teilerfolg gelungen. Es hat ein millimetergroßes Loch in die vorher so unüberwindbare Festung geschlagen. Eine winzige Menge mehr als vorher an Sauerstoff steht dem Geschöpf zur Verfügung. Dadurch bleibt es aktiv. Sein Leben ist gerettet.
Aber der Körper der Kreatur ist noch eingeklemmt als wäre er in Beton gegossen. Unbändiger Wille nach uneingeschränkter Freiheit treibt das Wesen an, weiter zu hämmern. Es hämmert noch Stunden. Dann öffnet sich an der Festungsmauer ein zentimetergroßer Spalt. Mehr Licht und Luft gelangt in den Knast. Nach weiterer Zeit bricht die Gefängniszelle auseinander.
Das hartnäckige Wesen hat den Kampf gewonnen.
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